Die Covid-19-Pandemie hat eindrücklich gezeigt, dass Daten für die Erarbeitung und Beurteilung angemessener Strategien zur Bewältigung wichtiger Gesundheits- oder Gesellschaftsprobleme grundlegend sind. Dazu gilt es jedoch, diese Daten zu verstehen sowie ihren Wert und ihre Vergleichbarkeit im entsprechenden Kontext beurteilen zu können. Im Zuge der Covid-19-Pandemie trat die fehlende Datenkompetenz in vielen Facetten zu Tage. Was sagen die Zahlen zu positiven Tests wirklich aus? Wie können diese Daten sinnvoll erhoben werden? Lassen sich die Daten verschiedener Regionen und Länder beliebig miteinander vergleichen? Wie interpretiert man sie korrekt? Wie viel Vertrauen setzen wir in Daten? Wie werden die Daten verwendet, wie können sie geteilt werden und wer kann darauf zugreifen? All diese Fragen zeigen die Komplexität hinter der Produktion, dem Zugang und der Nutzung von Daten auf.
Das Problem der «fehlenden Datenkompetenz in der Gesamtgesellschaft» ist zwar nicht neu, aber die enorme Bedeutung von vertrauenswürdigen Daten zur Vorbereitung von schwierigen politischen Entscheiden ist selten so deutlich zum Vorschein gekommen wie im Rahmen der Covid-19-Pandemie.
Um resiliente Gesellschaften zu schaffen, die in der Lage sind, Daten sinnvoll und seriös zu verwenden, braucht es eine breit verankerte und nachhaltig gelebte Datenkultur. Mit anderen Worten soll die Allgemeinheit kollektiv dafür sensibilisiert werden, wie stark ihr Leben von immer grösseren Datenmengen bestimmt und gesteuert wird. Die Menschen sind Datenproduzenten, die tagtäglich Daten preisgeben, von denen sie nicht wissen, ob, wo und wie sie verwendet werden, und zugleich Datennutzerinnen und -nutzer, die täglich mit immer grösseren Datenvolumen aus allen Fach- und Lebensbereichen überschwemmt werden. Deshalb ist es unerlässlich, über Schlüsselkompetenzen zum sinnvollen und vertrauenswürdigen Umgang mit diesen Daten zu verfügen – im Privatleben (z.B. bei der Nutzung von Gesundheitsanwendungen oder sozialen Medien), aber auch für die Gesellschaft als Ganzes. Dazu braucht es deutlich mehr Datenkompetenz als einem Grossteil der Gesellschaft bisher vermittelt wurde.
Die Covid-19-Pandemie sollte deshalb zum Anlass genommen werden, um die Datenkompetenz und damit einen verantwortungsvollen, kritischen, ethischen und nachhaltigen Umgang mit Daten für die Zukunft zu fördern. Indem die Menschen zu einem kompetenten Umgang mit Daten befähigt werden, wird nicht nur ihre Gesundheit und Lebensqualität gewährleistet, sondern auch ihre informierte und verantwortungsbewusste Teilhabe an einer demokratischen Gesellschaft.
Aber was ist «Datenkompetenz» überhaupt? Datenkompetenz ist die Fähigkeit, Daten kritisch zu sammeln, zu verwalten, zu beurteilen und zu nutzen. Sie umfasst fünf Kompetenzbereiche: konzeptuelle Grundlagen, Datensammlung (einschliesslich Datenqualität), Datenbewirtschaftung (einschliesslich Datenkonvertierung, Metadatenmanagement, Datensicherheit und Wiederverwendung), Datenevaluation (einschliesslich Datenanalyse, Dateninterpretation und datenbasierte Entscheidfindung) und Datennutzung (einschliesslich Datenethik, Datenweitergabe und Entscheidbeurteilung anhand von Daten).
Eine solide Datenkompetenz ist heutzutage wie Lesen und Schreiben unverzichtbar für den Erhalt der Grundwerte einer demokratischen Gesellschaft wie Freiheit, Gleichberechtigung und Mitbestimmungsrecht.
Datenkompetenz ist für alle wichtig! Oder wie David Spiegelhalter (ehemaliger Präsident der Royal Statistical Society) 2020 sagte: «Nicht nur Fachleute brauchen Datenkompetenz – sie ist eine Grundanforderung für eine informierte Gesellschaft.»
Die heutige zersplitterte, von Daten geprägte Informationslandschaft ist anfällig für die Tücken von Falschinformation, postfaktischer Politik und gesellschaftlicher Polarisierung. All diese Probleme erfordern beim Umgang mit Daten einen kritischen Blick. Es ist folglich dringend notwendig, die Datenkompetenz auf Ebene der Personen, Organisationen und der Gesellschaft voranzutreiben und damit alle Akteure zu befähigen, sich in den komplexen modernen Datenökosystemen zurechtzufinden. Die 2021 im Rahmen von PARIS21 veröffentlichte Publikation «Advancing data literacy in the post-pandemic world – A primer to catalyse policy dialogue and action», die ich mitbetreuen durfte, untersucht den Zustand, das Verständnis und die Praxis der Datenkompetenz in der heutigen Gesellschaft sowie den Weg in die Zukunft der Datenkompetenz. Die Arbeit zieht drei zentrale Schlussfolgerungen: Es braucht eine gemeinsame Sprache rund um die Datenkompetenz, Datenkompetenz muss nach einem nachfrageorientierten und partizipativen Ansatz vorangetrieben werden und die bisherigen Ad-hoc-Programme müssen durch langfristige politische Massnahmen und Investitionen mit nachhaltiger Wirkung ersetzt werden.
Das dritte Fazit entspricht klar einem der Ziele des neuen «Project Rosling» der schweizerischen Eidgenossenschaft, das zur Förderung der Datenkompetenz verschiedene Stakeholder zusammenbringen und auf breit abgestützte, gezielte Massnahmen hinarbeiten wird.
Hans Rosling hat uns alle stark inspiriert. Er hat gezeigt, wie sich anhand von Daten Geschichten erzählen lassen, insbesondere durch ansprechende, aussagekräftige Visualisierungen. An den Schweizer Statistiktagen 2009, an denen mir die grosse Ehre zuteilwurde, zum Präsidenten der Schweizerischen Gesellschaft für Statistik gewählt zu werden (ich durfte dieses Amt bis 2015 ausüben), hielt Hans Rosling einen Vortrag zum Thema «Unveiling the Beauty of Statistics» (sinngemäss: «Die Entdeckung der Schönheit von Statistiken»). Ich hatte Rosling bereits unzählige Male virtuell gehört, aber ihn live mitzuerleben und anschliessend mit ihm persönlich zu diskutieren war unvergesslich.
Danke Hans, für deine Datengeschichten und deine Inspiration! Es gilt, Wege zu finden, damit sich jede und jeder mit Daten beschäftigt. Es gilt, Daten und Statistiken für alle zugänglich und nutzbar zu machen. Im Zeitalter der Digitalisierung ist Datenkompetenz ebenso wichtig wie Lesen und Schreiben.
Ein grosser Dank gilt der schweizerischen Eidgenossenschaft, die im Rahmen des Project Rosling mit dem Workstream «Datenkompetenz» zum Handeln aufruft, um die Datenkompetenz allgemein zu erhöhen und konkrete Fortschritte zu erzielen.
Datenkompetenz: «Leaving no one behind!» – Niemanden zurücklassen!
Prof. Dr. ès sc. Diego Kuonen, CStat PStat
CEO, Statoo Consulting & Professor of Data Science, Geneva School of Economics and Management, University of Geneva & Co-Initiator “Data Literacy – Switzerland” (data-literacy.ch)